Große
Bergstraße

 

„Direkt am Anfang der Großen Bergstraße, zwischen Schomburg-, Hospital- und Virchowstraße, steht seit fast zehn Jahren ein Gebäudekomplex, zu großem Teil bestehend aus Sozialwohnungen. Verschiedene Mietparteien, darunter eine WG für Demenzkranke und ein Frauenwohnprojekt, haben hier ihr Zuhause – und ebenso auch ich, Vakil-Mai Seeger.

Meine Wohnung mag ich sehr, weil sie Ausblick in fast alle Himmelsrichtungen hat und noch dazu einen schönen, großen Balkon. Hier gibt es immer irgendwo Licht und Sonne für einen Kaffee am Fenster.

Große Bergstraße HausDrei Altona Altona-Altstadt altonaSTORY

Foto: Veronika Steffens

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Foto: Veronika Steffens

Der Umzug aus Eimsbüttel vor acht Jahren fiel mir trotzdem nicht leicht, denn ich musste eine wunderschöne Altbauwohnung mit Garten zurücklassen, die ich aufgrund meiner Erblindung und den zunehmend rücksichtslosen Vermietern nicht mehr halten konnte. Gewissermaßen kehrte ich damit an den Ort meiner Jugend zurück, denn Anfang der 1960er Jahre habe ich hier im Viertel meine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau gemacht. Damals hatte die Große Bergstraße noch Flair, war voller interessanter Läden, Kneipen und vor allem alter Handwerksbetriebe und Gewerke. Daran erinnert heute nur noch der schöne, alte Laden für Kachelöfen und Heizungsbau.

2012 waren die Auseinandersetzungen rund um die neue IKEA-Filiale gerade in vollem Gange, das war ein guter Einstieg für einen politischen Menschen wie mich. Ein Jahr lang trafen wir uns jeden Samstag mit einer Gruppe von Leuten, um den riesigen, alten Baum zu verteidigen, der mitten auf dem Goetheplatz stand und gefällt werden sollte. Wir behängten und behäkelten ihn, brachten damit unseren Protest und unsere Ideen für eine alternative Nutzung der Straße durch Kunst und Kultur zum Ausdruck. Aber unsere Hoffnungen zerschlugen sich: Der Baum fiel und IKEA kam.

Für mich beherrscht der Klotz mit dem blau-gelben Schriftzug heute die ganze Straße. Ich weiß, dass auch Anwohner*innen und Passant*innen aus dem Stadtteil das Möbelhaus nutzen, vor allem das Restaurant, aber ansonsten hat IKEA das meiste verdrängt, was es hier vorher gab. Und mein Gewissenskonflikt bleibt, als Mieterin selbst zu dieser Vertreibung beigetragen zu haben. Aber wenn man wenig Geld hat, kann man sich nicht erlauben eine preisgünstige Wohnung wie diese abzulehnen.

Wo heute mein Haus steht, war früher ein großer Parkplatz, der aber weniger von Autos, als in erster Linie von Menschen aus der Nachbarschaft genutzt wurde, darunter auch Obdachlose und Alkis. Sie konnten sich hier treffen, austauschen, gemeinsam essen oder einfach nur ausruhen. Heute ist der begrünte Innenhof allein für die Bewohner*innen der Häuser reserviert, alles ist sauber, aufgeräumt, aber für meinen Geschmack zu clean und steril. Es fehlt einfach etwas ganz Entscheidendes: ein offener, sozialer Ort für alle!

In meiner Phantasie sehe ich eine Jurte auf einem Hügel stehen, inmitten eines Sees; sie ist wie eine Karawanserei für Menschen aus aller Welt, die dort verschiedenste Getränke zelebrieren – Kaffee, Tee, selbstgebraute Limonaden, Kefir und Kumys u.a. – und dabei erzählen sie einander ihre Lebensgeschichten.

Wenn ich nur darüber spreche, wird mir ganz warm ums Herz.“

Autorin: Karen Bo
Geschichte: Vakil-Mai Seeger